Zafon, Carlos Ruiz by Der dunkle Wachter

Zafon, Carlos Ruiz by Der dunkle Wachter

Autor:Der dunkle Wachter [Wachter, Der dunkle]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-06-17T12:47:36+00:00


9. Die verwandelte Nacht

Der ferne Widerhall eines hartnäckigen Klopfens riss Simone aus einer Welt voller tanzender Bilder und Monde, die zu glühenden Silbermünzen verschmolzen. Das Geräusch drang erneut an ihre Ohren, und diesmal wurde Simone endgültig wach und begriff, dass die Müdigkeit stärker gewesen war als ihr Vorsatz, vor Mitternacht noch ein paar Kapitel zu lesen. Als sie ihre Lesebrille aufhob, hörte sie es wieder. Jemand klopfte leise an das Fenster, das zur Veranda hinausging. Simone stand auf und erkannte Lazarus’ lächelndes Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe. Sofort spürte sie, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Während sie die Tür öffnete, betrachtete sie sich im Spiegel im Vorraum. Ein Desaster.

»Guten Abend, Madame Sauvelle. Vielleicht komme ich ungelegen…«, sagte Lazarus.

»Überhaupt nicht. Ich… Ehrlich gesagt habe ich gelesen und bin fest eingeschlafen.«

»Das heißt, Sie sollten das Buch wechseln«, bemerkte Lazarus.

»Vermutlich. Aber kommen Sie doch herein.«

»Ich möchte Ihnen nicht lästig fallen.«

»Reden Sie keinen Unsinn. Bitte, treten Sie näher.«

Lazarus nickte höflich und trat ins Haus. Seine Augen schweiften rasch durch den Raum.

»Das Haus war nie in einem besseren Zustand«, stellte er fest. »Gratuliere.«

»Das ist allein Irenes Verdienst. Sie ist die Dekorateurin in der Familie. Eine Tasse Tee? Kaffee?«

»Ein Tee wäre perfekt, aber…«

»Kein Wort mehr. Mir wird er auch guttun.«

Ihre Blicke begegneten sich für einen Moment. Lazarus lächelte freundlich. Simone senkte verwirrt den Blick und konzentrierte sich darauf, den Tee für sie beide zuzubereiten.

»Sie werden sich nach dem Grund meines Besuchs fragen«, begann der Spielzeugfabrikant.

In der Tat, dachte Simone bei sich.

»Ich mache jeden Abend einen kleinen Spaziergang durch den Wald bis zu den Klippen. Es hilft mir, mich zu entspannen«, hörte sie Lazarus sagen.

Es entstand eine Pause zwischen ihnen, während das Wasser im Teekessel summte.

»Haben Sie schon von dem jährlichen Maskenball in Baie Bleue gehört, Madame Sauvelle?«

»Am letzten Vollmond im August…«, rief Simone sich in Erinnerung.

»So ist es. Ich habe mich gefragt… Nun, Sie sollen wissen, dass mein Vorschlag Sie zu nichts verpflichtet, andernfalls würde ich es nicht wagen, ihn auszusprechen. Also, ich weiß nicht, ob ich mich verständlich mache…«

Lazarus schien mit sich zu ringen wie ein nervöser Pennäler. Sie lächelte ihm aufmunternd zu.

»Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl Lust hätten, mich dieses Jahr zu begleiten«, schloss der Mann schließlich.

Simone schluckte. Lazarus’ Lächeln erstarb.

»Es tut mir leid. Ich hätte Sie nicht fragen sollen. Nehmen Sie meine Entschuldigung an…«

»Mit oder ohne Zucker?«, warf Simone freundlich ein.

»Bitte?«

»Der Tee. Mit oder ohne Zucker?«

»Zwei Löffel.«

Simone nickte und rührte die beiden Löffel Zucker langsam um. Dann reichte sie Lazarus lächelnd die Tasse.

»Womöglich habe ich Sie beleidigt…«

»Das haben Sie nicht. Ich bin es nur nicht mehr gewöhnt, dass mich jemand einlädt, mit ihm auszugehen. Aber ich würde gerne mit Ihnen zu diesem Ball gehen«, antwortete sie, überrascht über ihre eigene Entscheidung.

Auf Lazarus’ Gesicht erschien ein strahlendes Lächeln. Für einen Augenblick fühlte sich Simone dreißig Jahre jünger. Es war ein zwiespältiges Gefühl, auf halbem Wege zwischen erhebend und lächerlich. Ein gefährlich berauschendes Gefühl. Ein Gefühl, das stärker war als Scham, Bedenken oder ein schlechtes Gewissen. Sie hatte vergessen, wie beflügelnd es war, zu spüren, dass sich jemand für sie interessierte.



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